3 Einführung in Netzwerkprotokolle und Schichtenmodelle

3.1 Warum brauchen wir Protokollstacks?

Moderne Netzwerkkommunikation ist komplex und muss eine Vielzahl von Aufgaben bewältigen: von der physischen Übertragung elektrischer Signale über Kabel bis hin zur Darstellung von Webseiten im Browser. Um dieser Komplexität zu begegnen, wurde die Netzwerkkommunikation in logische Schichten unterteilt – ähnlich wie ein Unternehmen in verschiedene Abteilungen gegliedert ist, die jeweils spezifische Aufgaben erfüllen.

3.1.1 Die Grundidee der Schichtenmodelle

Das Prinzip des Schichtenmodells folgt einigen grundlegenden Konzepten:

  1. Modularität: Jede Schicht übernimmt eine spezifische Funktion und bietet definierte Dienste.
  2. Abstraktion: Höhere Schichten müssen die Details der unteren Schichten nicht kennen.
  3. Kapselung: Daten werden auf jeder Schicht verpackt (und auf der Gegenseite wieder entpackt).
  4. Standardisierung: Definierte Schnittstellen ermöglichen die Interoperabilität verschiedener Systeme.

Das ist vergleichbar mit dem Postdienst: Der Absender (Anwendungsschicht) muss nicht wissen, ob sein Brief per Flugzeug, Zug oder LKW transportiert wird (untere Schichten) – er muss nur die Regeln für die korrekte Adressierung kennen.

3.2 Die zwei wichtigsten Schichtenmodelle

3.2.1 Das OSI-Referenzmodell

Das OSI-Modell (Open Systems Interconnection) wurde in den 1970er Jahren von der ISO entwickelt und besteht aus sieben Schichten.

  1. Physikalische Schicht: Übertragung von Bitströmen über ein Medium
  2. Sicherungsschicht: Zuverlässige Verbindung zwischen direkt verbundenen Geräten
  3. Vermittlungsschicht: Routing zwischen verschiedenen Netzwerken
  4. Transportschicht: Ende-zu-Ende-Verbindung zwischen Prozessen
  5. Sitzungsschicht: Sitzungsmanagement für Dialoge
  6. Darstellungsschicht: Datenformatierung und -konvertierung
  7. Anwendungsschicht: Anwendungsprotokolle und Benutzerschnittstellen

Das OSI-Modell ist primär ein theoretisches Konzept, das jedoch die Grundlage für das Verständnis von Netzwerkkommunikation bildet.

3.2.2 Das TCP/IP-Modell

Das TCP/IP-Modell (auch Internet-Protokoll-Suite genannt) ist das in der Praxis verwendete Modell und besteht aus vier Schichten:

  1. Netzzugangsschicht: Entspricht den OSI-Schichten 1 und 2
  2. Internetschicht: Entspricht der OSI-Schicht 3
  3. Transportschicht: Entspricht der OSI-Schicht 4
  4. Anwendungsschicht: Entspricht den OSI-Schichten 5, 6 und 7

Dieses Modell bildet die Grundlage des heutigen Internets und wird in der praktischen Netzwerktechnik täglich eingesetzt.

3.3 Datenfluss durch die Schichten

Beim Senden von Daten durchlaufen diese die Schichten von oben nach unten:

  1. Die Anwendung erzeugt Daten (z.B. eine E-Mail).
  2. Jede Schicht fügt ihre eigenen Header (und manchmal auch Trailer) hinzu.
  3. Die unterste Schicht überträgt die Bits über das physische Medium.

Beim Empfang werden die Daten von unten nach oben verarbeitet:

  1. Die unterste Schicht empfängt die Bits vom Medium.
  2. Jede Schicht entfernt ihre Header und verarbeitet die Kontrollinformationen.
  3. Die Anwendung erhält schließlich die ursprünglichen Daten.

Dieser Prozess wird oft als “Encapsulation” (beim Senden) und “Decapsulation” (beim Empfangen) bezeichnet.

Datenfluss durch Protokollschichten

3.4 Protokollbeispiele in den verschiedenen Schichten

OSI-Schicht TCP/IP-Schicht Protokollbeispiele
7 - Anwendung Anwendung HTTP, SMTP, FTP, DNS, SSH
6 - Darstellung Anwendung SSL/TLS, MIME, XDR
5 - Sitzung Anwendung NetBIOS, RPC, SIP
4 - Transport Transport TCP, UDP, SCTP
3 - Vermittlung Internet IP, ICMP, ARP, OSPF
2 - Sicherung Netzzugang Ethernet, PPP, HDLC
1 - Physikalisch Netzzugang Ethernet, RS-232, DSL

3.5 Vorteile der Schichtenarchitektur

Die Aufteilung in Schichten bietet zahlreiche Vorteile:

  1. Komplexitätsreduktion: Jede Schicht konzentriert sich auf spezifische Aufgaben.
  2. Unabhängige Entwicklung: Schichten können unabhängig voneinander weiterentwickelt werden.
  3. Interoperabilität: Verschiedene Systeme können kommunizieren, solange sie die gleichen Protokolle verwenden.
  4. Wartbarkeit: Fehler können leichter isoliert und behoben werden.
  5. Flexibilität: Auf jeder Schicht können verschiedene Technologien eingesetzt werden.

3.6 Die Bedeutung für IT-Fachkräfte

Für IT-Fachkräfte ist das Verständnis der Netzwerkschichten aus mehreren Gründen wichtig:

  1. Problemlösung: Die Schichtenstruktur hilft bei der systematischen Fehlersuche.
  2. Netzwerkdesign: Fundierte Entscheidungen bei der Planung und Implementierung von Netzwerken.
  3. Sicherheitskonzepte: Sicherheitsmaßnahmen können gezielt auf den entsprechenden Schichten implementiert werden.
  4. Optimierung: Verbesserung der Netzwerkperformance durch Anpassungen auf den relevanten Schichten.

3.7 Beispiel eines Datenflusses

Betrachten wir ein konkretes Beispiel: Das Öffnen der Webseite www.example.com in einem Browser:

  1. Anwendungsschicht: Der Browser erstellt eine HTTP-Anfrage.
  2. Transportschicht: TCP fügt Ports hinzu und sorgt für zuverlässige Übertragung.
  3. Internetschicht: IP kümmert sich um das Routing zum Zielserver.
  4. Netzzugangsschicht: Ethernet fügt MAC-Adressen hinzu und sendet die Bits über das Kabel.

Beim Webserver läuft dieser Prozess umgekehrt ab, bis die Anfrage bei der Webserver-Anwendung ankommt. Diese erstellt eine HTTP-Antwort, die den gleichen Weg zurück zum Browser nimmt.

3.8 Herausforderungen moderner Netzwerke

Moderne Netzwerktechnologien fordern das klassische Schichtenmodell heraus:

  1. Software-Defined Networking (SDN): Abstraktion zwischen Netzwerkverwaltung und -hardware.
  2. Virtualisierung: Mehrere virtuelle Netzwerke auf physischer Infrastruktur.
  3. Overlay-Netzwerke: Virtuelle Netzwerke über bestehende Infrastruktur.
  4. Containerisierung: Neue Anforderungen an Netzwerkkommunikation in Microservice-Architekturen.

Trotz dieser Entwicklungen bleiben die grundlegenden Konzepte der Schichtenmodelle relevant, da sie die konzeptionelle Basis bilden, auf der diese Innovationen aufbauen.